Ein Vortrag von Maria de los Angeles Guido (Engen, 1999)
Guten Abend liebe Gäste,
ich freue mich, daß Sie so zahlreich gekommen sind und wir den Abend gemeinsam verbringen werden.
Ich bin Maria Angeles Guido, gebürtige Spanierin und wohne in Mühlhausen. Ich bin verheiratet und habe vier erwachsene Kinder, drei davon adoptiert. Von Beruf bin ich Eurythmistin.
Wie komme ich dazu, nach Südamerika zu gehen?
Durch eine Fügung kam ich in Kontakt mit den Menschen dieses Heimes. Ich wurde eingeladen, die Kinder zu besuchen, mit ihnen zu spielen, zu arbeiten und das Heim und seine Bedürfnislage kennenzulernen.
Dabei habe ich aus nächster Nähe erfahren:
Auf der Heimreise fragte mich ein Polizist: „Was sind deine Eindrücke von Kolumbien? Was hältst du von uns? Sage es in einem Satz!“
Gemessen an den Erlebnissen und Eindrücken, erschienen mir die 17 Tage Aufenthalt in Bogotá wie zwei Jahre. Ich war sprachlos.
Mir fielen zwei Worte dazu ein: HIMMEL UND HÖLLE.
Mit diesen beiden Worten läßt sich mein Vortrag überschauen:
HÖLLE in der tiefen Not und Auswegslosigkeit.
HIMMEL im sichtbaren Wirken Gottes in dieses Elend hinein.
Meine Ausführungen, verbunden mit einigen Bildern und einem Video werden ca 11⁄2 Stunden dauern. Im Anschluß sind Sie herzlich zu einem kolumbianischen Tee und einem Gespräch eingeladen.
Das Vortrage auf Deutsch fällt mir schwer. Bitte haben Sie Verständnis und legen Sie meine Worte nicht auf die Goldwaage.
Versuchen Sie meine Botschaft zu verstehen und fragen Sie, wenn etwas unklar ist. Eine politische Diskussion möchte ich ausklammern, Ihnen aber die gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Situation in Bogotá schildern.
Zunächst wollen wir uns ansehen, wo Kolumbien liegt:
Kolumbien ist das einzige Land Südamerikas, das von beiden großen Weltmeeren begrenzt wird: Dem Atlantik im Nordosten, dem Pazifik im Westen, außerdem von der Karibik im Norden. Sie sehen, es durchziehen drei Gebirgsketten von Nordost nach Südwest mit den dazwischenliegenden Hochtälern das Land. In einem solchen Hochtal, auf etwa 2500 Meter Höhe liegt Bogotá. Die nächstgrößeren Städte sind Medellín und Calí. Es gibt keine Jahreszeiten. Sonne und Regen wechseln sich ab bei einer durchschnittlichen Jahrestemperatur von 16° C. ( Ich habe die ganze Zeit gefroren – und das im September).
Im Flachland herrscht subtropisches und tropisches Klima.
Kolumbien ist reich an tropischen Früchten, Kaffeeplantagen und natürlich Kokain. Es birgt zahlreiche Bodenschätze und Edelsteine, besonders Smaragde.
Ich möchte Ihnen von meinen ersten Eindrücken in Bogotá erzählen:
Das Heim liegt in einem Viertel der Mittelschicht. Die Häuser sind meist zweistöckig, in recht bescheidener Bauweise. Wir würden sie der Unterschicht zuordnen. Die Fenster lassen sich schwer öffnen und schließen, die Dächer sind undicht. Die Kanalisation ist unzureichend – Toilettenpapier wirft man nicht in die Toilette, sondern sammelt es in Plastiktüten. Wenn es regnet werden die Straßen überschwemmt. Ist dann das Wasser endlich abgelaufen, sieht man große und tiefe Löcher auf den mangelhaft geteerten Straßen. Einheimische Autofahrer brausen im rasanten Tempo um diese Löcher herum. Zahlreiche ungeteerte Straßen sind Ursache für viel Staub. Dazu kommen die penetranten Abgase nicht gewarteter Autos und alter Busse.
Die Menschen bewegen sich in Massen in der Stadt. An der Kleidung erkennt man die Armut. Ich habe beobachtet, wie Menschen Müllsäcke aufreißen um etwas Eßbares zu finden.
Die Infrastruktur ist in Bogotá vorhanden, aber durch die Armut sind viele Menschen davon ausgeschlossen.
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß, die Mittelschicht verschwindet. Es gibt keine Übergänge. Reiche haben keine Gemeinschaft mit den Armen. Sie schirmen sich ab. Jeder fürchtet um sein Eigentum. Die Reichen schützen sich durch die Paramilitärs. Gegen wen? Gegen die Guerilla und Kriminalität. Die staatlichen Milizen bilden die dritte bewaffnete Gewalt.
Das Volk lebt von allen Seiten bedroht, auch auf dem Land. Hier agiert vor allem die Guerilla. Die einheimischen Autofahrer vermeiden Überlandstrecken, denn Autos werden angehalten und weggenommen. Durch Entführungen werden enorme Lösegelder erpresst.
Schon Kinder werden für die Guerilla und Paramilitärs gewonnen und eingesetzt. Immer wieder werden Priester ermordet, weil sie gegen die Gewalt predigen. Viele Kirchen wurden deshalb geschlossen.
Ein Menschenleben in Kolumbien ist nicht viel wert.
Eine Frau erzählt in der Kirche: „Ich habe gesehen, wie ein Mann einen anderen nach dem Weg fragte. Danach überquerte er die Straße und wurde von hinten erschossen. Der Befragte hatte die Waffe gezogen“.
Häufig werden Menschen auf offener Straße erschossen. Die „Sicarios“ (Berufskiller) arbeiten für wenig Geld.
Auf der Straße ist das Leben in Bogotá nicht sicher. Hier sehen Sie die schönste Ecke Bogotás, die kleine Altstadt. Wir wollten mit der Seilbahn zum Monserrat fahren. Auf diesem Weg durften wir nicht zu Fuß gehe, weil er so schön begrünt war. Diebe lauern hinter den Büschen. So mussten wir mit dem Taxi 2 1⁄2 Minuten fahren.
Ich möchte Ihnen nun die Familiensituation beschreiben, aus der die Kinder des Heimes kommen.
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist anders als bei uns. Nach der Darstellung des Pfarrers gibt es im Allgemeinen kein partnerschaftliches Verständnis von der Ehe, in der gemeinsam Probleme gelöst werden. Die Bindung der Frau besteht in einem Abhängigkeitsverhältnis. In der Armenschicht wirkt sich das besonders verhängnisvoll aus.
Der Mann steht oft nicht zu seiner Verantwortung gegenüber seiner Frau und seinen Kindern. Die Sexualität ist häufig ungeordnet, sexueller Missbrauch und Inzest kommen häufig vor. Viele Männer haben außereheliche Beziehungen.
Die Frauen werden mit den Kindern allein gelassen. Mit einfachen Arbeiten versuchen sie etwas Geld zu verdienen, das aber oft nicht für das Notwendigste reicht. Die Kleinkinder werden ins Zimmer gesperrt, da sie nicht beaufsichtigt werden können, größere Kinder kommen schon auf die Straße und bleiben sich selbst überlassen. Sie wachsen auf ohne Schutz und ohne Orientierung, ganz dem zerstörerischen Einfluss ihres Umfeldes ausgesetzt. In ihrer Suche nach Nähe und Halt binden sie sich durch Sex – der Kreis schließt sich.
Manche Mütter geben ihre Kinder zu Verwandten oder in ein Heim. Geschwister werden dabei auseinander gerissen.
Ein großes Problem ist auch der Drogenkonsum. Dazu werden wir uns einige Ausschnitte eines Videos ansehen. Sie sehen Aufnahmen aus dem gefährlichstem Viertel Bogotás, „El Cartucho“:
Diese Straße liegt mitten im Zentrum von Bogotá. In diesem Viertel wohnen 6000 Menschen, alle drogenabhängig. Die Kinder sind bereits im Mutterleib abhängig.
Sie sehen, da ist jemand getötet worden. Das geschieht täglich. Ein unpassendes Wort oder zu viele Fragen genügen. Keiner weiß hier, wer morgen dran ist.
Ich habe selbst die Einschußlöcher an den Häuserfassaden gesehen. Und das, obwohl Waffen verboten sind. Es ist schwieriger, einen Waffenschein zu bekommen als ein Visum für die USA.
Sie können sich vorstellen, daß ich große Angst hatte, diese Gegend zu betreten. Über das Kinderheim lernte ich einen Prediger kennen, der früher selbst drogenabhängig war. Er führte mich durch dieses Viertel, bis in die Innenhöfe hinein.
Das Leben ist trist, ohne Perspektive. Die Kinder werden angehalten zu stehlen, sie lernen zu rauben und zu morden.
Das Drogenproblem ist nicht auf dieses Viertel beschränkt. Drogenkonsum und die damit verbundene Kriminalität bestehen in der ganzen Stadt. Hier sind die Kinder besonders gefährdet. Manchmal müssen sie ihren Eltern Drogen besorgen.
Das Heim HOGAR NUEVO AMANECER hat es sich zur Aufgabe gemacht, gefährdete Mädchen aufzunehmen, sie zu schützen und ihnen eine Schulausbildung zu ermöglichen, die nicht selbstverständlich ist.
Die Direktorin Mariela Bernal ist ausgebildete Predigerin. Sie bekam den Ruf, sich für die Kinder einzusetzen. Sie erzieht sie im lebendigen Glauben, um ihnen für ihr Leben eine tragende Basis zu geben. Zur Zeit wohnen dort zwanzig Kinder im Alter von 3 bis 18 Jahren. Zwei Frauen helfen mit, die Kinder zu betreuen. Sie verdienen nur ein Taschengeld. Das Heim lebt fast ausschließlich von Spenden und aus der Gnade. Die Spendengelder kommen unregelmäßig und in unterschiedlicher Höhe. Es kommt auch vor, daß die Kinder nichts zu essen haben. Sie müssen sich von billigen Lebensmitteln ernähren. So ist das Essen recht einseitig, vitamin- und eiweißarm. Nicht selten steht Mariela um 3 Uhr nachts auf, um zu beten, daß die Kinder zu Essen bekommen.
In der Regel verlassen die Kinder das Heim im Alter von 18 Jahren. Sie stehen dann mit einem Schulabschluß aber ohne Berufsausbildung und mittellos vor dem Dilemma, sich in der zuvor geschilderten Umgebung zurechtfinden zu müssen. Es ist dringend notwendig, daß sie zuvor einen Beruf erlernen können. Marielas Ziel ist es, die Mädchen länger im Heim zu behalten, verbunden mit einer praktischen Ausbildung, die ihnen eine selbständige Lebensführung ermöglicht. Bisher fehlen jedoch dazu die finanziellen Mittel. Zuerst müssen die Grundbedürfnisse gesichert sein.
Es ist notwendig, daß ich von dem Heim und seinen Nöten erzähle, da sonst die Arbeit nicht weitergeführt werden kann und das Heim schließen muß. Ich nehme an, daß einige von Ihnen bereits Patenschaften übernommen haben oder andere Spenden tätigen. Sie sollen sich nicht bedrängt fühlen. Ich fühle mich jedoch den Kindern verbunden und bitte Sie, zu überdenken, ob Sie eine Patenschaft übernehmen können. Bitte erzählen sie auch in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis von dem Heim. Ich werde weiterhin mit dem Heim in Verbindung bleiben und Sie gerne über die Entwicklung informieren. Sie können erfahren, was mit den Geldern geschieht und den Kontakt zu den Kindern bekommen. Gerne werde ich auch die Briefe für Sie bzw. von Ihnen übersetzten, wenn Sie es wünschen. Auf diesem Plakat können sie die Kinder sehen. Bei Interesse kann ich Ihnen etwas über die persönliche Lebensgeschichte der Kinder erzählen.
Nachdem ich Ihnen über die Not der Menschen in Bogotá erzählt habe, möchte ich Ihnen nun auch vom Gegenteil, dem Himmel erzählen. Ich habe erlebt, wie Gott in diese Not hineinwirkt und wie Er Menschen berührt
Und zwar:
1. bei den Kindern
2. wie Er erwachsene Menschen von Grund auf verändert hat
3. meine Erfahrung mit Gott
Wie Mariela Bernal bringen auch die Kinder alle Dinge des Alltags ins Gebet. Frühmorgens, bevor die Kinder in die Schule gehen, singen sie Loblieder und werden im Gebet in Schutz und Führung eingehüllt. Abends vor dem Zubettgehen bringen die Kinder in der Gemeinschaft im freien Gebet natürlich und spontan vor Christus, was sie den Tag über bewegt hat. Als die Kinder am Tag meiner Ankunft gebrauchte Kleidung bekommen haben und abends noch tiefgehend ihre Freude und ihren Dank ausdrückten, war ich zutiefst bewegt. Ich sah schon Dreijährige beten. Die Kinder haben untereinander ein herzliches Verhältnis und schenken sich gegenseitig Geborgenheit und Nähe. Die Athmosphäre erinnerte nicht an zu kurz gekommene Heimkinder, sondern bezeugte eine lebendige Gemeinschaft. Der Glaube ist offenbar die zentrale Kraft in diesem Heim. Sie wirkt auch nach außen. Die Kinder beten nicht nur für sich, sondern auch für die Menschen, die sie unterstützen und für die Menschen, die in Not sind: „Lieber Jesus, hilf du und segne alle Frauen, die zu uns kommen.“ – Täglich kommen Anrufe von Frauen, die ihre Kinder bringen wollen. Stehen sie vor der Tür, so werden sie erst einmal empfangen. Man kümmert sich um sie, gibt ihnen Essen, Kleidung und Geld für den Bus. Sie werden mit einem Gebet verabschiedet. Kinder können keine mehr aufgenommen werden.
Mariela und ich besuchten die Mutter eines der Mädchen im Gefängnis. Immer wieder seit elf Jahren sitzt sie dort wegen Diebstahls. Ihre Tochter wurde im Gefängnis geboren und verbrachte dort die ersten drei Lebensjahre. In diesem Frauengefängnis entwickelten sich spontan Gespräche mit einigen Frauen. Sie erzählten von ihren Problemen und waren erstaunt und dankbar für unser echtes Interesse. Die meisten waren nicht gläubig, und dennoch schien mir im Schlußgebet, daß sie berührt waren.
Henry leitet ein Haus für Drogenabhängige. Früher selbst abhängig, wurde er nach seiner Bekehrung von der Droge befreit. Heute lebt er zusammen mit noch Abhängigen. Er teilt das Leben mit ihnen und hilft ihnen, von der Sucht wegzukommen. Dabei holt er die Menschen da ab, wo sie sind. Er geht auf ihre Probleme ein und führt sie zu Gott hin. Als ich Henry kennenlernte, war ich beeindruckt von seiner Ausstrahlung: sanftmütig, dabei klar und konsequent.
Bei meinem Abschied betete er: „Herr, ich bitte Dich, sei bei Maria Angeles, daß die Menschen Jesus in ihr sehen.“ Damit sprach er genau das aus, was ich an ihm wahrnehmen konnte: JESUS.
Hier sehen Sie Leonardo, den Hausmeister einer christlichen Schule. Er ist ein friedfertiger Mann mit viel Humor. Wenn man ihn so erlebt, ahnt man nicht, was er früher für ein Mensch war.
Er erzählte mir unbefangen, daß er, bevor er Hausmeister wurde, ein Sicario war. Wissen Sie, was Sicario heißt? Berufskiller! Er wurde mehrfach verurteilt, insgesamt zu 122 Jahren Gefängnis. Weiter erzählte er mir, daß er sich im Gefängnis zu Christus bekehrt hatte. Von diesem Augenblick an wurden ihm die Gefängnisstrafe Zug um Zug erlassen. Unter anderem wegen guter Führung, Fleiß, Zuverlässigkeit und Kameradschaftlichkeit.
Schließlich predigte Leonardo im Gefängnis. Er wurde begnadigt.
Insgesamt hat er 16 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Der Pastor, der während des Gespräches daneben stand, fügte hinzu: „Leonardo ist ein neuer Mensch. Nichts, aber auch gar nichts von seiner Vergangenheit haftet an ihm.“
Hier sehen Sie Eduardo Betancour. Sie kennen ihn schon vom Video. Er stammt aus einer kriminellen Familie. Mit 13 Jahren brach er mit seinem Vater und nahm sich vor, ihn zu töten. Eduardo begann, Drogen zu nehmen. Seine Biographie ist gefüllt mit bewegenden Ereignissen. Ich möchte mich auf das Wichtigste beschränken:
Eduardo arbeitete im Drogenhandel für den berüchtigten Drogenboss Escobar. In der Dealerhierarchie hatte er einen Vorgesetzten, von dem er seine Aufträge bekam. Eines Tages geriet Eduardo mit ihm in Streit und beide zogen die Waffen. Eduardo wurde eine lange Schnittwunde im Gesicht zugefügt. Diese Entstellung macht ihn so zornig, daß er beschloß, den Vorgesetzten zu töten.
Die Zeit verstrich, Eduardo sucht immer wieder nach Gelegenheiten, seinen Vater und jenem Vorgesetzten zu begegnen um sie umzubringen. Inzwischen stieg er auf der kriminellen Karriereleiter immer höher. Er betrieb Waffenhandel. Er nahm sich seinen Schwager zum Vorbild, der so kaltblütig töten konnte. Aber eine Begegnung mit Eduardos ausgewählten Opfern wurde immer wieder vereitelt. Entweder fand er beide Männer nicht, oder sie saßen gerade im Gefängnis.
Die Drogen zerstörten zunehmend Eduardos Leben, und zwar nicht nur sein eigenes. Ein unter Drogeneinfluß gezeugtes Kind kam schwerstbehindert zur Welt. Das Kind starb, die Beziehung mit der Freundin ging auch in die Brüche.
Eduardos Leben schwankte zwischen zwei Extremen: Wenn er Geld hatte, lebte er in Saus und Braus in teuren Hotels mit Frauen. Hatte eralles ausgegeben, landete er bei seinesgleichen im Drogenviertel El Cartucho.
Zwischendurch saß er immer wieder im Gefängnis. Hier nahm sich ein Pastor der Gefangenen an und predigte ihnen. Aber das kümmerte Eduardo nicht. Er setzte sein Leben wie gewohnt fort. Doch die Drogen machten ihn fertig und hielt ihn im El Cartucho fest. Als er wieder einmal ins Gefängnis kam, geschah ihm etwas Außergewöhnliches, völlig Fremdes: Er hatte eine Vision. Er sah Jesus.
Aber Eduardo wußte nichts damit anzufangen. – Im Gegenteil: Wieder aus dem Gefängnis entlassen, wurde seine Persönlichkeit zunehmend zerstört und es mündete im totalen Zusammenbruch. Mittellos und lethargisch nahm er wahr, daß er in einer Sackgasse gelandet war. Er erkannte die Sinnlosigkeit seines Lebens. Eduardo sehnte sich nach dem Tode.
Ein alter Mann sprach zu ihm: „Geh in die Kirche und höre dir das Wort Gottes an!“
Einmal streifte er durch die Straßen und suchte ein Opfer, dem er etwas stehlen konnte. Plötzlich – er wußte nicht wie – saß er in einer Kirche. Der Pfarrer, dem Eduardos Gegenwart auffiel, ging plötzlich auf ihn zu und gab ihm die Hand. Darüber wunderte sich Eduardo, er wußte um sein zerlumptes Aussehen. Daß überhaupt jemand auf ihn zuging, ließ ihn staunen. Unmittelbar sagte der Pfarrer:
„Ich zeige dir, wie man betet.“ Der Pfarrer fiel auf die Knie, erhob seine Arme und betete laut zu Gott. Eduardo war verblüfft und verließ wortlos die Kirche.
Ein anderes Mal fand er sich wieder in dieser Kirche. Diesmal war die Kirche voll und die Gemeinde sang und lobpreiste Gott laut und mit Inbrunst. Das versetzte Eduardo in Panik und er verließ fluchtartig die Kirche.
Dennoch entwickelte sich ein Bezug zum Pfarrer. Dieser bot Eduardo an, bei der Vergrößerung des Gemeinderaumes mitzuhelfen. Eduardo hielt zum ersten Mal in seinem Leben ein Werkzeug in der Hand und er merkte, daß ihm die körperliche Arbeit guttat. Ein ganzes Jahr arbeitete er beim Umbau mit. Täglich kam er mit einer ganz anderen Welt in Berührung. Eduardo lernte ein Frau kennen, die aus einer intakten Familie und gehobenem Milieu kam. Der Pfarrer versicherte Eduardo, Gott würde ihm alle Sünden verzeihen. Er müsse aber die Drogen sein lassen.
Dann kam Eduardo wieder ins Gefängnis.
Eduardo hatte zuvor Gemeinschaft erlebt und sehnte sich danach, vor Weihnachten aus dem Gefängnis zu kommen. Er sprach zu Gott: „Wenn du mich hier rausnimmst, verspreche ich dir, die Drogen sein zu lassen. Zwei Tage vor Weihnachten holten zwei Wärter Eduardo unerwartet aus seiner Zelle, brachten ihn ins Polizeiauto und fuhren ihn aus der Stadt heraus. Dort stiegen sie aus.
Mit Maschiengewehren bewaffnet, forderten sie Eduardo auf, vor ihnen herzulaufen. Eduardo hatte Todesangst. Er drehte sich beim Gehen um, damit er seine Peiniger sehen konnte. Nach einer Weile riefen die Wärter, er solle loslaufen. Eduardo ging weiterhin zurückgewandt, aus Angst, er könne erschossen werden. Nach einigem Abstand rannte er fort, so schnell er konnte.
Für Eduardo war ein Wunder geschehen.
Wie versprochen versuchte er, von den Drogen wegzukommen. Doch als es ihm nicht gelang, schloss er ein Kompromiß: Tagsüber beten, nachts die Drogen zuzulassen. Sein Zustand besserte sich nicht. Der Pastor sagte zu ihm: „Du mußt dich entscheiden.“
Eduardo lauschte in sich hinein und vernahm eine Stimme: Hilf dir selbst und auch den anderen, von den Drogen wegzukommen. Ich werde dir alle Mittel geben, die du dazu brauchst.
Später befand sich Eduardo in einem Raum mit anderen Drogenabhängigen. Er erhob die Arme, wie er es beim Pastor gesehen hatte, und rief zum Heiligen Geist. Er fühlte seine Gegenwart. Während er so dastand, fielen die anderen auf die Knie. Eduardo sah Jesus durch die Tür kommen. Alle Anwesenden begannen zu weinen.
Von nun an wußte Eduardo, daß Gott mit ihm gesprochen hatte und ihm helfen würde.
Er nahm sich der Drogenabhängigen im El Cartucho an und predigte ihnen. Dort gründete Eduardo sein erstes Heim für Abhängige. Finanziert durch Spenden und staatliche Hilfen folgten weitere.
Eduardo heiratete seine Freundin, hat Kinder und lebt in einer intakten Familie. Seine gesamte Familie bekehrte sich. Eine Schwester, die ihren Mann ermordet hatte, arbeitet heute mit Eduardo zusammen.
Jetzt komme ich zu meinen persönlichen Erfahrungen.
Wir begaben uns ins Drogenviertel El Cartucho. Eduardo hatte eine Gruppe an Helfern zusammengerufen. Auch Mariela und die älteren Kinder des Heimes halfen mit. Hier wurden Menschen frisch eingekleidet, vorausgesetzt, sie wuschen sich hinter einem aufgestelltem Sichtschutz. Die Haare wurden geschnitten, Ärzte kontrollierten den Gesundheitszustand, vor allem den der Kinder. Zum Schluß bekamen alle eine Mahlzeit.
Eduardo schickte mich in die Straßen um die Kinder zum Waschen zu holen. Auf diese Weise ging ich zum ersten Mal alleine durch die Straßen von El Cartucho. Ich fasste Mut, sah mich nach den Kindern um und sprach sie an. Einen etwa Neunjährigen sah ich auf dem Gehsteig sitzen, rauchend und mit benebeltem Blick. Das machte mich sehr betroffen. Ich ging die Straße weiter entlang, dabei blickte ich immer wieder zurück, um den Kontakt mit meiner Gruppe nicht zu verlieren.
Dann kam der Punkt, an dem ich nur noch meine Umgebung wahrnahm. Ich schaute die heruntergekommenen Gestalten an, sah ihre abgestumpften Mienen. Etwas öffnete sich in mir. Ich fühlte in mir eine Kraft aufsteigen, die diese Menschen aufrichten wollte. Mein Herz floß über vor Mitgefühl. Es war mir, als würde ich die Menschen mit Geist und Seele anrühren und aufrichten. Ich merkte, ich hatte den inneren Schutzwall aufgegeben; Ich war verschmolzen mit der Umgebung. Dabei nahm ich wahr: Ich war von Gott geschützt.
Eine Frau begegnete meinem Blick: Sie hob ihr ausdrucksloses Gesicht, ein Leuchten ging über ihre Züge, ihre Augen füllten sich mit Leben.
Während ich an den sitzenden und liegenden Menschen vorbeiging, bemerkte ich, daß ein Mann gleichsam mit mir ging. Ich gelangte an die Kreuzung, an der sich meine Gruppe aufhielt, als er plötzlich auf mich zukam und sagte: „Was für einen schönen Blick du hast!“
Ich verstand, was er meinte.
Ich möchte noch ein Erlebnis erzählen, das ich bei dieser Aktion mit einer drogenabhängigen Frau hatte. Nora war klein, sehr schmal, hinkte. Sie hatte es schwer, in der Menschenmenge voranzukommen. Ich bot ihr meine Hilfe an, wählte für sie passende Kleider aus, begleitete sie zur Waschstelle. Ich musste sie beim Gehen stützen. Als sie furchtbar zu husten begann, hielt ich sie mit beiden Armen umfangen.
Ich sah auf ihre Kopfhaut, sie war aufgerissen und eitrig. Der Hustenanfall wollte nicht aufhören und ich hielt sie fest im Arm, damit sie nicht fiel. In diesem Augenblick fühlte ich ihre ganze Not und Tragik mit.
Ich mußte weinen. Nora versuchte, mich zu trösten: „No llores, no llores – Nicht weinen, nicht weinen“. Dann erzählte sie mir, ihre Mutter sei gestorben, der Mann habe sie verlassen und nun lebe sie auf der Straße. „Ich möchte Liebe“.
Ich sagte ihr, Jesus sei bei ihr und liebe sie. Sie fragte, ob er sie sehen würde. Ich bejahte und sie fragte weiter, ob Jesus alles sehe, was sie täte. „Nicht alles, was ich getan habe, war gut.“ Wir beteten gemeinsam. Zum Schluß sagte ich: „Gott will, daß du hier rauskommst, er hat etwas mit dir vor.“
Nora übergab später ihr Leben Christus.
Während meiner Zeit in Bogotá machte ich auch an mir selbst eine überwältigende Erfahrung. Meine Körperzellen schienen sich zun erneuern. Ich fühlte mich gesünder. Das erinnerte mich an die Worte einer Pastorin, die in Heilungsgottesdiensten die Hände auflegt: „Wenn ich meine Hände auflege, dann weiß ich, ob Heilung geschieht. Ich spüre dann die Auferstehungskräfte.“
Hier sehen Sie das letzte Bild meines Vortrages: Mit den Kindern machte ich einen Ausflug in die Berge nach Guatavita. Die Kinder waren ausgeritten und ich blieb mit der Besitzerin zurück, obwohl ich sehr gerne mitgeritten wäre. Bald sollte sich zeigen, wofür das gut war. Diese Frau sprach sehr offen. Sie begann aus ihrem Leben zu erzählen. Mit ihrem ersten unehelichen Kind habe sie große Probleme. Ihr Freund habe sie verlassen, als sie hochschwanger war. Der Junge leide noch heute unter den Folgen. Sie habe als Mutter alles versucht, um ihm zu helfen. Ich riet ihr, auf Gott zu vetrauen. Wir können nicht immer alles selbst bewirken. Gott wirkt und verändert. Er will nur die Erlaubnis von uns haben, es zu tun. Sie kann ihr Herz für Christus öffnen und ihn bitten, in ihr Herz und in ihr Leben zu treten und darin zu wirken.
Ich erzählte ihr von meine eigene Erfahrungen damit, wie Christus vieles in meinem Leben verändert und geheilt hat und indirekt auch bei meinen Kindern gewirkt hat. Die Frau nahm meine Worte dankbar an. Sie wolle auch allein ein solches Gespräch mit Jesus führen. Dann erinnerte sie sich an jemandem und erzählte folgendes:
„Als ich mit dem viertem Kind hochschwanger war, brachen Diebe in mein Haus ein, räumten die Küche aus und stahlen das mühsam für die Entbindung gesparte Geld. Das geschah eine Woche vor der Geburt meines Kindes. Ich war verzweifelt und niedergeschlagen. Eine Frau aus dem Dorfe kam zu mir und sagte: ‚Ich werde dir das Geld geben, das du für die Entbindung brauchst. Und neue Töpfe für deine Küche. Aber denke nicht, alles sei für dich. Gib einen Teil davon an jemand anderes weiter, der es braucht.’ Ich war gehorsam. Es gibt eine kleinen Jungen, dessen Eltern gestorben sind und der alleine lebt. Da er sehr arm ist, kaufte ich ihm einen Anzug für seine Erstkommunion und gab ihm auch noch einige Töpfe dazu. Seitdem fehlt mir im Leben nichts. Obwohl ich arm bin, habe ich immer genug.“